Rätselhaft, geheimnisvoll - die Augen einer Katze; Augen, deren Ausdruck sich nicht sprachlogisch auflöst. Fasziniert vom Ausdrucksrepertoire ihrer Pupillen, deren Wandlungsfähigkeit in einigen frühen Kulturen dem wechselhaften Mondzyklus verbunden bleibt, gleitet der menschliche Blick im Blick der Katze in die Fülle einer sprachlosen Sprache. "Pour dire les plus longues phrases, / Elle n'a pas besoin de mots", wie Baudelaires Fleurs du Mal diesen Sog in die offene Weite des Wortlosen vom Lautrepertoire der Katze her deuten: einen Sog, der nicht weniger die visuelle Physiognomie der "chat mystérieux" charakterisiert. Es ist diese vom Staunen getragene und gleichwohl um den Abgrund der Distanz zum Tier wissende Faszination, mit der sich Baudelaire in seinen Poèmes de chats von Rilkes hochgesteigerter Rühmung des Offenen im Wesen der tierhaften "Kreatur" (Achte Duineser Elegie) und von Heideggers auf das "Weltarme" des Tiers gestützten Einspruch gegen eine solche "Vermenschung" unterscheidet (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, §§ 45ff.; Parmenides, GSA Bd. 54, S. 239). Metaphysisch gestützte Deutungen und ihre Fallhöhe verlieren bei Baudelaire ihr Gewicht zugunsten einer kreatürlichen Erfahrung zwischen Tier und Mensch, der Erfahrung nämlich, wie in einer Welt des zunehmenden Funktionalismus und seiner schnellen Reiz-Decodierung die expressive visuelle Kraft der Katze, mit der sie uns fixiert, in eine Meditatio hominis übergeht: Was heißt Leben, was Sprache, was Arbeit, was bedeutet, kurz gesagt, die Conditio humana vor einem Tier, das trotz aller partiellen Domestikation mit seinem archaischen Naturell das zivilisatorische Regelwerk von Kontrolle und Disziplin unbeirrt und gewaltlos durch eine leise Gegenbewegung des Ungebundenen grundiert?
Die Katze - ein Wesen mit vielen Gesichtern. In ihrem Blick, der von weither kommt und einen Korridor in ferne Zeiten öffnet, brechen sich die Wüsten und Sternennächte Ägyptens und die Kulte der Bastet ebenso wie die Verteufelung der Katze im christlichen Kulturkreis, der das diabolische Tier seinem weiblichen Aspekt nach mit Hass und Abscheu überzieht und seine Dämonisierung schließlich im 13. Jahrhundert bei Berthold von Regensburg in einem etymologisch-ideologischen Kurzschluss sondergleichen festschreibt: im Synonym von Katze und Ketzer. Ihre auch in der Dunkelheit präzise Jagdtechnik von Anschleichen und Zugriff, ihre äußerst flexible Augen- und Ohrensensorik, ihre extreme Wendigkeit wird der Katze in einer Religion des sündhaft erstarrten Menschenbilds und der Unterwerfung unter die omnipräsent übermächtige Zeugenschaft Gottes allein schon von ihrem agilen Instinktrepertoire her zum Verhängnis. Der Eigensinn eines Tiers, das sich wegen seiner Befehlsresistenz nie zur Gänze besitzen lässt, das libertär promiske Wesen seiner Sexualität und seine Verbundenheit mit Nacht und Dunkelheit galten der christlichen Doktrin des Gehorsams, der Askese, der Verfallenheit des Fleisches und der Hoffnung auf das Licht der Erlösung als die Inkarnation satanischer Kräfte. Neben ihrer Affinität zum Peccatum mortale der Luxuria und der Superbia, der Wollust und des Stolzes, verkörpert und versinnbildlicht die Katze mit ihrem müßiggängerischen Habitus und ihrem Schlafbedürfnis dem Arbeitsethos des Christentums zufolge vor allem die Sünde der Acedia: Weder liefert die Katze Nutzprodukte - keine Milch, keine Eier, keine Wolle - noch vollbringt sie die effektiven Dienstleistungen anderer Haustiere. Einzig die Verwertung der toten Katze unterlag einer wirtschaftlichen Nutzung - vom Katzenfell über Katzengalle bis zum Katzendarm. Exorzistischen und apotropäischen Praktiken zufolge wurden Katzen lebendig eingemauert, vergraben und zusammen mit Hexen und Ehebrecherinnen gefoltert, verbrannt und ertränkt. Nicht umsonst wird im Malleus maleficarum, dem Hexenhammer von 1486, die Katze als "Sinnbild des Ungläubigen" dargestellt, Projektionsfläche für ein Pandämonium an Lastern, seien es die Mordlust der Beutegier oder die Eitelkeit der Putzsucht, wobei der Katze noch die List und Schlauheit ihrer Jagdstrategie als Falschheit und Verschlagenheit ausgelegt wurden.
Erst im Zug der modernen Arbeits- und Leistungsimperative nimmt das Wesen der Katze die Eigenschaft jener Weisheit und Gelassenheit an, in deren Namen Baudelaire Eulen und Katzen als Nachttiere der großen, weitsichtigen Augen im 66. und 67. Gedicht der Fleurs du Mal zu Wesensverwandten erklärt und die Katze vom Makel des Teuflischen ins ‘Engelhafte’ entrückt. Und wenn das christliche Mittelalter in Unkenntnis des Tapetum lucidum, der hinter der Netzhaut liegenden reflektierenden Gewebeschicht, verantwortlich für das Widerleuchten des Katzenauges im Dunkeln, die unheimlich aufglühenden Augen der Katze als weiteres Indiz für deren höllenhaftes Stigma verbucht, werden die Kristalle und Farbpigmente des Tapetum lucidum und sein Farbspektrum bei Baudelaire zum "Goldgesprenkel, das wie Sand so fein, Besternt der Blicke rätselhaften Schein" ("Et des parcelles d'or, ainsi qu'un sable fin, / Etoilent vaguement leurs prunelles mystiques.") Zugleich rückt die sinnende Katze, die in den Fleurs du Mal "wie eine Sphinx am Grund der Einsamkeiten (au fond des solitudes) in Schlummer sinkt" und in "Träume, die nie enden (dans un rêve sans fin)"(1), mit dieser meditativen Ruhe der Versunkenheit in die Nähe jener Schwermut, die bereits bei Shakespeare zur Sprache kommt: "I am as melancholy as a gib cat" (Shakespeare, King Henry IV, First Part I, 2).
Steht jedoch die Katze, ein Tier des Pianissimo, auf ihren sprichwörtlichen Samtpfoten plötzlich - einer Erscheinung gleich - im Raum und trifft uns der Blick ihrer „prunelles mystiques”, der die Zeit anhält, dann schärft sich in diesem Innehalten das Auge der Katze zu einem Spiegel, der bannt und zugleich befreit: Befreit, indem sich die Katze keinerlei moralische Urteile über uns erlaubt, und bannt, indem sie uns sphinxhaft mit der Frage ins Visier nimmt: "Wer bist du?".
1 Charles Baudelaire, Les Chats, in: Les Fleurs du Mal (LXVI), Deutsche Übertragung von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart 1980.
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